Spieglein, Spieglein an der Wand…

Wenn Teenager bei mir in der Therapiestunde berichten, dass sie Angst haben zu essen, beginnt die Geschichte zumeist so: “Mir ging es nicht gut. Ich war unzufrieden mit meinem Körper und habe mir gedacht, dass ich mich besser fühle, wenn ich ein paar Kilo abnehme. Ich hab dann weniger gegessen und tatsächlich habe ich mich wohler mit meinem Körper gefühlt.”

Und erstmal klingt das gut und manch einer wird sich denken „Toll, dass Du etwas für Dich getan hast“. Aber es ist eben auch paradox, denn sie berichten, dass Abnehmen geholfen hat, dass sie sich besser führen. Aber sie sitzen beim Psychotherapeuten und das ist meistens kein Anzeichen für psychisches Wohlbefinden.

Die Geschichte der Patient*innen geht dann weiter. Sie erzählt von einer Gesellschaft, welche Angst davor hat, unattraktiv zu sein. Einer Gesellschaft, die so von Schönheit besessen ist, dass Mädchen und Frauen sich immer seltener trauen, ihr reales Gesicht zu zeigen, sondern nur noch digital veränderte Make-up-Masken. Eine Gesellschaft, in der die schlimmste Beleidigung für Menschen ist, dass sie fett und hässlich sind und in der man sich nur wertvoll fühlen kann, wenn man dünner oder hübscher ist als die anderen. Eine Gesellschaft, aus der Schneewittchens Stiefmutter stammen könnte, da es kollektiv kritisch vor dem Spiegel steht und sich fragt, wie man zur/zum Schönsten im ganzen Land wird.

Aber während Schneewittchen ihre Schönheit durch den Wunsch und die Liebe ihrer Mutter bekommen hat, ist in dem Märchen der Teenies Schön sein eine Frage des Willens. Ein Ideal, das jeder erreichen kann, wenn er hart genug an sich arbeitet. Und wie bei Grimm sind die Schönen gut und fleißig und verdienen es, belohnt zu werden (Goldmarie), die Hässlichen sind dagegen faul und böse, die zu bestrafen sind (Pechmarie). Der Körper wird zum Talisman, zum Fetisch, der über das Schicksal des Einzelnen entscheidet.

Wenn die Kinder ihre Geschichte dann erzählt haben, stelle ich den Kids folgende Frage: “Wenn Du ein Haustier hättest und das hätte nicht mehr so viel Spaß am Spielen und würde in Summe nicht so fit wirken, wäre Dein erster Gedanke, dass Du ihm weniger zu fressen gibst?” Hier gucken mich die Kinder meistens mit großen Augen an. Das würden sie nie machen, sie würden zum Arzt gehen. Und wenn der Arzt nichts findet? Nun, dann würden sie immer noch nicht weniger zu fressen geben, sondern schauen, ob sonst irgendetwas nicht passt.
Bei Tieren erfassen wir intuitiv, dass eine Diät nicht zu einer Verbesserung des Gesamtzustandes führt, wenn es dem Tier schlecht geht und es in einem einigermaßen normalen Gewichtsbereich ist. Im Gegenteil, wir können uns alle vorstellen, dass es den Zustand des Tieres noch verschlechtert, wenn es nicht genug gesundes Futter bekommt. Überhaupt sind Menschen, die ihre Tiere nicht gesund und ausreichend ernähren, bei uns eher unten durch.

Aber bei uns ist das anders. Wir folgen auf Social Media Leuten, die uns raten, dass wir abnehmen sollten. Ohne dass sie uns kennen, ohne zu berücksichtigen, ob wir ein gesundes Gewicht haben oder eben nicht, ohne dass sie wissen, ob wir vielleicht krank sind oder nicht. Abnehmen ist aber doch generell gesund, macht zufrieden und hilft, dass man lange lebt. Oder?

Lehnen wir uns zurück, schnappen uns eines der viel beworbenen „Du wirst mit diesem Drink ewig leben“- Getränke (in meinem Fall Kaffee) und schauen auf die Studienlage.

Bringt uns etwas Wohlfühlspeck ins Grab?

Hier kann man Gott sei Dank Entwarnung geben. Bereits im Jahre 2009 zeigte eine Metastudie des deutschen Ärzteblattes, dass leichtes Übergewicht, also die paar Pfunde Hüftgold, nicht mit einer erhöhten Sterblichkeit einhergeht. Vor manchen Erkrankungen schützt ein leichtes Übergewicht sogar, bei manchen Erkrankungen dagegen erhöht sich das Risiko zu sterben, wenn man leichtes Übergewicht hat. In Summe ist es aber ein Nullsummenspiel und mit leichtem Übergewicht lebt man genauso gesund oder ungesund wie mit Normalgewicht.
2013 kam eine Studie in den USA heraus, in der 3 Millionen Tode untersucht wurden und festgestellt wurde, dass leichtes Übergewicht eine höhere Wahrscheinlichkeit für ein langes Leben mit sich bringt als Normalgewicht.

Sind Modelmaße gesund?

Sollten Sie lange leben wollen, sollten Sie dagegen Modelmaße (außer die von Curvy Models) eher an den Nagel hängen, denn Untergewichtige haben eine erhöhte Sterblichkeit. Gerade bei Herz-Kreislauferkrankungen scheint zu dünn sogar gefährlicher zu sein als zu dick. Diesen Effekt nennt man das Obesity-Paradox.

Sollte man also Normalgewicht haben oder leichtes Übergewicht gibt es erstmal keinen gesundheitlichen Grund sich mit einer Diät zu quälen, solange es kein Arzt (aufgrund anderer Erkrankungen) empfiehlt. Ganz im Gegenteil. Diäten können durch den Jojo-Effekt die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass man in ungesundes Übergewicht rutscht und sind damit alles andere als gesund.

Aber hilft Abnehmen wenigstens dabei zufriedener mit sich zu werden?

Wer schon mal abgenommen hat, weiß, dass Gewichtsverlust nicht gerade mit guter Laune einhergeht. Es wäre also eher überraschend, wenn die Laune besser würde, wenn auf die eh schon vorhandene schlechte Laune die schlechte Laune von der Diät noch zusätzlich mit draufkommt. Warum berichten dann die Kids, dass sie sich besser fühlen? Nun, weil sich dies nur auf den Moment bezieht, wo sie auf die Waage steigen. Hier merken die Kids, dass sie etwas in ihrem Leben verändern können und erleben sich selbstwirksam. Und Selbstwirksamkeit macht glücklich, aber halt nicht für lang.

Eine Studie aus dem Jahre 2014 weist ebenfalls darauf hin, dass Abnehmen, wenn man mit sich unzufrieden ist, vielleicht eher Öl ins Feuer gießen bedeutet. In dieser Studie wurden 1979 übergewichtige Ü50er untersucht, die zum Anfangszeitpunkt der Studie keine Krankheit oder Depression aufwiesen. Nach eine 4-Jahres-Zeitraum teilte man die Probanden in 3 Gruppen -abhängig davon, wie sich das Gewicht entwickelt hat- ein. Eine Gruppe mit einer deutlichen Gewichtszunahme, eine mit mehr oder weniger stabilem Gewicht, eine Gruppe mit einer deutlichen Gewichtsabnahme. Es zeigte sich, dass die Gruppe, die Gewicht abgenommen hat, ein deutlich erhöhtes Risiko für eine Depression hatte. Die anderen beiden dagegen nicht.

Es gibt aber auch Studien, die einen positiven Zusammenhang zwischen abnehmen und psychischer Gesundheit belegen. Wie passt das ins Bild? Diese Studien stammen meist aus Abnehmprogrammen, wo Menschen in eine Gruppe mit Gleichgesinnten abnehmen. Die Stimmungsstabilisierung beginnt hier jedoch bereits vor der Gewichtsabnahme und hat wahrscheinlich weniger mit der Diät, sondern mehr mit dem Kontakt und der Gemeinschaft zu tun.

Es macht also mehr Sinn unter Menschen zu gehen, wenn man sich nicht gut fühlt als abzunehmen. Und wissen Sie was auch helfen kann? Kunstgeschichte. Gehen Sie mal auf Wikipedia und schauen sich die großen Kunstwerke der Göttin Venus an. Sie gilt als Sinnbild der Schönheit seit der Antike. Glauben Sie mir, in 2000 Jahren Kunstgeschichte hatte Venus nie eine Thigh Gap. Im Gegenteil, manchmal findet man sogar ein ganz schönes Bäuchlein.

Schwergewichtige Menschen bewegen sich zu wenig

Last but not least könnte man fragen, ob denn wenigstens eine Diät bei Fettleibigkeit nicht sinnvoll wäre. Und hier zeichnet sich immer mehr ein „Ja, aber“ ab. Untersuchungen zeigen, dass Depressionen und Traumatisierungen Übergewicht nach sich ziehen. Vor allem Missbrauch und Misshandlung in der Kindheit geht mit einem erhöhten Risiko für Adipositas einher. Hier zeigt sich ein gemeines Paradox, denn traumatisierte Frauen neigen vor allem zu Gewichtszunahme, wenn sie sich viel bewegen. Wenn Frauen also all diese gut gemeinten Ratschläge befolgen und versuchen die Pfunde durch Sport loszubekommen, erhöht sich ihr Risiko, dass sie übergewichtig werden. Einfache Diätansätze greifen hier häufig zu kurz, da das eigentliche Problem nicht in Angriff genommen wird. Hier wäre es also sinnvoller eine Therapie zu beginnen, um das Erlebte zu verarbeiten und eine Diät im Rahmen eines Programms, wo man mit anderen gemeinsam abnimmt und sich austauschen kann (Sie erinnern sich, dies verbessert die Stimmung und ist somit eine gute Selbstfürsorge um das Risiko einer Depression durch eine Diät zu reduzieren.). Was sicher nicht hilft, ist, diesen Menschen wiederholt vorzuwerfen, dass sie zu willensschwach und undiszipliniert sind, denn das macht die Situation nicht besser. Häufig erreichen wir das Gegenteil. Wenn jemand eh schon am Boden liegt, hilft es nicht, wenn wir auf denjenigen zusätzlich eintreten.

Wie könnten wir also das Märchen verändern, das sich unsere Gesellschaft erzählt?

Wir könnten davon sprechen, dass der Genuss von gesunden und köstlichen Speisen und Getränke unser Leben verlängert und etwas Hüftgold eine Investition in ein langes Leben ist. Wir könnten uns daran erinnern, dass die Göttin der Schönheit und Sexualität über Jahrtausende aneinander reibende Oberschenkel und manchmal sogar ein Bäuchlein hatte. Und wir könnten erzählen, dass Menschen, die starkes Übergewicht haben, häufig Krieger sein mussten und wir Respekt davor haben sollten, dass sie mit den Erinnerungen dieser Kämpfe durchs Leben gehen. Wir könnten uns daran erinnern, dass nicht jeder Körper fruchtbar und sexuell begehrenswert wirken will, selbst wenn es das dazugehörige Gehirn vielleicht gerne hätte, sondern mancher Körper uns signalisieren will, dass er endlich in Ruhe gelassen werden will. Und das sollten wir respektieren, ohne immer lauthals unseren Unmut darüber in die Welt zu krakeelen. Wir könnten wieder mehr darüber sprechen, dass nur ein Bruchteil von Attraktivität mit dem Aussehen zu tun hat, und viel mit Eigenschaften wie Charme, Freundlichkeit, Großzügigkeit, Warmherzigkeit, Lebensfreude und Humor zu tun hat. Dass die Figuren in unseren Märchen eben nicht gut und fleißig wurden, weil sie schön waren, sondern dass sie schön wurden, weil sie gute und fleißige Menschen waren. Und zuletzt, dass körperliche Schönheit vergänglich ist und dass das, was Schneewittchens Stiefmutter für den Wunsch, die Schönste zu sein, geopfert hat, sich am Ende nicht gelohnt hat.

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