Neulich bin ich über eine Doku gestolpert, wo es um die Manosphere ging. Das sind Influencer, die der Meinung sind, dass Frauen Menschen zweiter Klasse sind. Auch wenn ich das – als Frau – mehr als befremdlich finde, ist es erstmal eine Grundhaltung, die ich, solange sie nicht zu Straftaten aufruft, in einer Demokratie wegtolerieren muss. „Tolerieren“ kommt schließlich von vom lateinischen Wort „tolerare“ – „aushalten“, nicht „toll finden“, um mal einen bekannten Kabarettisten zu zitieren. Und ich weiß, dass die Welt kompliziert und frustrierend ist und ich kann den Wunsch nach einer einfachen Lösung für ein komplexes Problem verstehen.
Diese Influencer erklären, dass sie dem Zuschauer die rote Pille geben werden, die ihnen hilft aufzuwachen und endlich ihr Leben in den Griff zu bekommen. In der Coachings-Szene wird der Begriff der roten und blauen Pille gerne verwendet, wenn ein Coach hervorheben will, dass eine bestimmte Info oder ein bestimmtes Mindset, jemandem mehr oder weniger absichtlich vorenthalten wurde und diese Info oder dieses Mindset weltverändernd für den anderen sein wird. Und ja, man muss schon sehr überzeugt von sich sein, um so eine Aussage, dass man die rote Pille hat, überhaupt zu treffen. Dass nach Jahrtausenden patriarchaler Strukturen und der Unterdrückung der Frau, ein frauenfeindliches Weltbild ein neues und unbekanntes Mindset sein soll, ist in dem Kontext aber eher schwer nachzuvollziehen und ein Widerspruch, den ich ganz gut wegatmen kann.
ABER: was wirklich nicht okay ist und wirklich zu weit geht und mein Nerd-Herz zum Bluten bringt, ist die absolut falsche Verwendung des Bildes der roten und blauen Pille aus dem Film Matrix, die von Influencern und Coaches genutzt wird.
Also hier ein kurzer Rant eines angry nerds.
Woher kommt der Begriff die rote Pille…
Das Bild der roten und blauen Pille kommt aus dem Film Matrix, der 1999 in die Kinos kam (Wer liebt nicht Keanu Reeves?). Die Grundidee des Films ist, dass die Menschen mithilfe von künstlicher Intelligenz intelligente Maschinen erfinden. Als die Maschinen beginnen, eine eigenständige Intelligenz zu entwickeln und gegen die Menschheit zusammenzuarbeiten, bricht ein Krieg zwischen den Menschen und den neu geschaffenen Maschinen aus. Die Menschen nehmen den Maschinen die Sonne als Energiequelle weg. Daraufhin beginnen die Maschinen Menschen als Energiequelle zu nutzen. Dazu haben die Maschinen riesige Menschenfarmen angelegt, in denen Menschen in einer Art Koma ihr Leben als Batterie verbringen. Nur wenige Menschen leben außerhalb dieser Menschenfarmen. Damit das System für die Maschinen funktioniert und Menschen aus diesem Koma nicht aufwachen, muss das Bewusstsein der Menschen beschäftigt werden. Die Maschinen erschaffen hierfür eine künstliche Realität, die Matrix. Wir erfahren im Film, dass die Maschinen zu Beginn in der Matrix ein Paradies für den Menschen erschaffen hatten. Jedoch seien hier immer wieder Menschen aufgewacht. Erst nachdem die Maschinen begannen, künstliche Konflikte in die künstliche Welt der Menschen zu bringen, wachten die Menschen nicht mehr auf.
In der Matrix wacht ein intelligentes Programm über die Menschen: Mr. Smith. Mr. Smith kann jede beliebige Form in der Matrix annehmen und seine Aufgabe ist die Menschen in der Matrix zu halten.
Wie kommt jetzt die rote und die blaue Pille ins Spiel?
Neo, der Hauptcharakter des Films, der noch mit seinem Bewusstsein in der Matrix gefangen ist, bekommt Kontakt zu Menschen, die außerhalb der Matrix leben. Die Menschen außerhalb der Matrix kehren immer wieder in die Matrix zurück, um den prophezeiten Auserwählten zu finden, der die Menschen angeblich aus der Matrix befreien wird.
Neo trifft schließlich auf Morpheus, der Neo für den Auserwählten hält. Morpheus gibt Neo eine Wahl. Er hält ihm zwei Pillen hin. Eine blaue, eine rote. Wenn er die blaue Pille schlucke, würde er in sein altes Leben in der Matrix zurückkehren und alles andere vergessen. Wenn er die rote Pille nähme, würde er Morpheus in seine Welt außerhalb der Matrix folgen. Neo entscheidet sich für die rote Pille und wird aus der Matrix extrahiert.
Das ist aber nur der Anfang des Prozesses. Nachdem Neo in die reale, wirklich nicht so schöne Welt gespuckt wird, päppelt ihn die Crew um Morpheus auf. Neo braucht etwas Zeit, um zu verstehen, was es bedeutet, nicht mehr in der Matrix zu sein, z.B. zu erkennen, dass er seine Augen und Muskeln noch nie benutzt hat. Dann beginnt für Neo das Trainingsprogramm. Er begibt sich mit Morpheus in eine Übungsmatrix. Dort beginnt er seine bisherigen gedanklichen Begrenzungen loszulassen und anzuerkennen, dass in der Matrix geradezu alles möglich ist, wenn er sich von seinem eigenen Geist nicht beschränken lässt.
Natürlich kämpft Neo damit, scheitert, es gibt eine Liebesgeschichte und schließlich ist Neo eben doch der Auserwählte, es kommt zum Showdown und es gibt ein Happy End….
So und wo ist nun mein Problem?
Wenn wir über digitale Fake-Welten reden, die künstliche Konflikte schüren, landen wir ziemlich schnell im Bereich der sozialen Medien. Wenn Dir jemand also auf Social Media verklickert, dass Du nur auf Social Media die Realität erfährst, dann hat derjenige kein Interesse, dass Du diese Fake-Welt verlässt. Im Gegenteil, er möchte, dass Du wieder kommst, denn das ist, was ihn (er)nährt. Das ist sein Businessmodell. Deine Aufmerksamkeit ist die Energie (und das Geld), die er haben will. Und dafür kreiert er einen Konflikt. Er ist Mr. Smith. Und
Genauer betrachtet ist das gesamte Bild der roten Pille falsch. Die rote Pille hilft Neo nicht zu verstehen, was die Matrix ist. Sie rettet ihn auch nicht. Sie sorgt nur dafür, dass er aufwacht und (fast) entsorgt wird. Neo würde ohne Morpheus und seine Crew nicht überleben, sondern aufgelöst als Flüssignahrung für andere Menschen in der Matrix dienen.
Die rote Pille erleuchtet ihn auch nicht. Als er in die Übungsmatrix zurückkehrt, ist er ähnlich gefangen in der digitalen Realität wie zuvor. Neos Kopf kann sich nicht durch die Einnahme einer Pille aus der Matrix lösen. Reale Menschen helfen Neo, sich aus dem Gedankenkonstrukt der Matrix schrittweise zu befreien.
Der Realitätscheck
Du willst die „rote Pille“? Dann komm in die Realität zurück. Influencer, wie die der Manosphere, heilen keine Krankheiten, bringen keinen technischen oder wissenschaftlichen Fortschritt, schützen nicht unsere Lebensgrundlage. Diese Menschen machen im besten Falle ihre ganze Existenz und ihren Selbstwert von der Bewunderung 15-Jähriger abhängig (und im Gegensatz zu den Backstreetboys kann man zu ihrer Arbeit noch nicht mal tanzen), im schlimmsten Falle müssen Staaten auch noch Geld aufwenden, um den Saustall, den diese Menschen anrichten in langwierigen Gerichtsverfahren wieder aufzuräumen.
Influencer gaukeln Dir Interesse vor, aber sie kennen Dich nicht. Du bist nicht mehr als der Code, der ihnen angezeigt wird, den sie manipulieren, damit sie Geld bekommen und ihr Bedürfnis nach „Bewundert werden“ befriedigen. Und mit jeder Stunde, die Du am Handy verbringst, verstreicht Dein Leben ereignislos, schwimmst Du in Deiner Blase rum. Du lässt Dir Deine Energie von der Matrix absaugen. Influencer haben kein Interesse daran, dass Du Freunde triffst oder einem Hobby nachgehst. Sie haben kein Interesse daran, dass Du die reale Welt erforschst. Sie haben kein Interesse daran, dass Dein Leben so toll wird, dass Du das Handy für immer weglegst. Mr. Smith hat nur einen Auftrag: Dich in der Matrix zu halten. Dir die blaue Pille zu geben.
Die Welt, in die Neo aufwacht, ist nicht schön. Sie ist hart, hässlich und gefährlich. Sie ist so furchtbar, dass Cypher, ein Crewmitglied von Morpheus, beschließt in die Matrix zurückzukehren und die hässliche Realität zu vergessen. Es kann uns ähnlich gehen, wenn wir aus dem Social Media-Koma aufwachen. Es ist manchmal nicht schön, was wir sehen. Es ist vielleicht Arbeit im Haushalt, der Schule oder im Beruf liegen geblieben, wir sind vielleicht untrainiert oder sozial ungeübt. Wir haben vielleicht sogar eine psychische Erkrankung.
Aber genau hier liegt die Entscheidung: nämlich ob wir wie Cypher wieder zurückkehren oder ob wir uns entschließen zu kämpfen.
Neo hat nicht gewusst, dass er der Auserwählte ist. Im Gegenteil, das Orakel hat ihm sogar gesagt, dass er nicht der Auserwählte ist. Er ist immer und immer wieder in der Übungsmatrix gescheitert. Und Neo weiß auch, dass Menschen schwierig sein können und am Ende kein Happy End warten wird, weil wir Menschen zu komplex dafür sind. Und trotzdem hat er sich dafür entschieden, für die Menschen und gegen die Maschinen zu kämpfen. Neo ist nicht zum Auserwählten geworden, weil er in der Matrix geblieben ist. Neo ist zum Auserwählten geworden, weil ihm viele Menschen geholfen haben, ein reales Leben und eine reale Sicht auf die Situation aufzubauen.
Sich aus der Matrix zu lösen, kann schmerzhaft sein. Die Matrix und ihre Influencer werden Dir dabei nicht helfen. Das können nur reale Menschen, die reale Welt und wenn Du offen bist für andere Sichtweisen. Wenn du die künstlich geschaffenen Dramen hinter Dir lässt und erkennst, dass sie nur dafür da sind, damit Dein Kopf beschäftigt ist.
Und selbst dieser Blogeintrag ist die Matrix. Also mach endlich den Bildschirm aus.