Wie man aus der richtigen Studie die falschen Schlüsse zieht

Es ist heiß diskutiert und in aller Munde : Vor ein paar Tagen lief eine Doku auf Tagesschau24 und das aktuelle Psychotherapeutenjournal schreibt darüber. Es ist die Schlagzeile schlechthin: Antidepressiva wirken bei leichten bis mittelschweren Depressionen kaum besser als Placebos.

Was bedeutet das? Placebos sind kleine Tabletten oder Kapseln ohne Wirkstoff. Man hat jetzt eine Menge Studien gemeinsam betrachtet und festgestellt, dass diese wirkungslosen Tabletten fast genauso gut wirken wie Antidepressiva. Aber wie können die zu einer Verbesserung führen, wenn da gar kein Wirkstoff drin ist?

Das Geheimnis liegt in unseren Selbstheilungskräften. Weil wir glauben, dass es uns besser gehen wird, wird es uns besser gehen. Salopp formuliert, ist Placebo einfach nur ein toller Name für eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, noch frecher: Es ist einfach Magie. Wenn ich überzeugt bin, dass es hilft, hilft es auch.

Dabei sind die Erkenntnisse durchaus faszinierend: Der Autor eines Artikels im Psychotherapeutenjournal, Thorsten Padberg, beschreibt, dass sowohl Placebo wie auch Antidepressivum eine unspezifische Antwort von 8,9 Punkten auf der Hamilton-Skala haben. Die Hamilton-Skala ist ein Instrument, mit der Forscher beurteilen, wie schwer eine Depression ist. Leider ist dieses Forschungsinstrument nicht ganz unumstritten und damit auch fraglich, wieviel diese Studie auch wirklich aussagt. Aber unabhängig davon: Eine wirkstofffreie Tablette scheint bei leichten und mittleren Depressionen zu helfen und wenn man dieser Skala folgt fast genauso gut wie ein Antidepressivum. Und das ist eigentlich eine gute Nachricht.

Man sollte beachten, dass diese Studie aus den USA stammt. In Deutschland werden Antidepressiva für leichte und mittelschwere Depressionen nicht empfohlen, sondern Psychotherapie. Antidepressiva werden erst im Regelfall bei schweren Depressionen empfohlen. Gerade weil es solche Unterschiede zwischen den Ländern gibt, sollte man Erkenntnisse aus einem Land nicht unreflektiert auf ein anderes übertragen.

Zitat aus der passenden Leitlinie*:
Empfehlung 4: Behandlung der ersten Wahl
„Für Kinder unter acht Jahren kann aufgrund mangelnder empirischer Evidenz keine Empfehlung gegeben werden.
Ältere Kinder und Jugendliche mit depressiven Störungen sollen eine kognitivverhaltenstherapeutische oder eine interpersonelle Psychotherapie oder das Medikament Fluoxetin oder eine Kombination aus kognitiv-verhaltenstherapeutischer Psychotherapie und
Fluoxetin erhalten. (Starke Empfehlung, Empfehlungsgrad A)

Einer Psychotherapie ist Vorrang zu geben, da eine Pharmakotherapie zu einer Verstärkung von Suizidgedanken und weiteren unerwünschten Nebenwirkungen führen könnte. (Starke Empfehlung, Empfehlungsgrad A)

Einer Psychotherapie ist bei leichter bis mittelgradiger Depression zunächst Vorrang zu geben. Bei einer schweren Depression sollte eine Kombinationstherapie in Erwägung gezogen werden. (Klinischer Konsenspunkt)
Bei Pharmakotherapie sollten das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen gut beobachtet und die empfohlenen Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden.“
(Klinischer Konsenspunkt, 65.2% Zustimmung zur Gesamtempfehlung)

Sondervotum
„Für Kinder bis zu 13 Jahren kann keine auf empirische Evidenz gestützte Empfehlung gegeben werden. Kinder bis zu 13 Jahren sollte eine Psychotherapie angeboten werden. (Klinischer Konsenspunkt)
Jugendliche mit depressiven Störungen sollen eine Psychotherapie erhalten. (Starke Empfehlung, Empfehlungsgrad A)
Eine Pharmakotherapie steht als Mittel zweiter Wahl bei Depressionen von Jugendlichen zur Verfügung, da die Verordnung zu einer Verstärkung von Suizidgedanken und weiteren unerwünschten Nebenwirkungen führen kann. (Starke Empfehlung, Empfehlungsgrad A)
Bei einer schweren Depression sollte eine Kombinationstherapie in Erwägung gezogen werden. (Klinischer Konsenspunkt)
Bei Pharmakotherapie sollten das Auftreten unerwünschter Arzneimittelwirkungen gut beobachtet und die empfohlenen Kontrolluntersuchungen durchgeführt werden.“ (Klinischer
Konsenspunkt)
Leitlinie Behandlung von depressiven Störungen bei Kindern und Jugendlichen
(Langfassung, Stand: 01.07.2013)

Bei schweren Depressionen wirkt das Antidepressivum um 1,75 Punkte im Schnitt besser, was jetzt nicht überragend ist, aber bei 15% Prozent der schwer Depressiven scheinen Antidepressiva zu einer deutlichen Verbesserung der Symptome zu führen. Dies sind die sogenannten Super-Responder. Bei ihnen führt die Einnahme von Antidepressiva zu einer deutlichen Reduktion der Depression.

Wie wirken Antidepressiva?

Wie Antidepressiva wirken, weiß man nicht genau. Auch wirken nicht alle Antidepressiva gleich.  In dem Artikel des Psychotherapeutenjournals wird von der sog. Serotonin-Hypothese gesprochen.

Die Serotonin-Hypthese geht davon aus, dass bei Depressiven nicht genug Serotonin im synaptischen Spalt, also dem Teil zwischen einer Nervenzelle und der nächsten Zelle vorhanden ist. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer sollen die Verfügbarkeit von Serotonin im synaptischen Spalt erhöhen. Für diese Hypothese gibt es keinen Beweis, da wir aber in die Synapsen auch nicht direkt reinschauen können, auch nicht so einen richtigen Gegenbeweis. Jedoch finden sich Hinweise, die gegen diese Hypothese sprechen: So findet man im Blut und Urin keine Serotonindefizite bei Depressiven.

Antidepressiva können aber auch Selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (NRI) sein. Das Grundprinzip ist das selbe, nur dass statt einem Serotoninmangel von einem Noradrenalinmangel ausgegangen wird. Ferner gibt es noch Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI), noradrenerge und
spezifische Serotonin-Antidepressiva (NaSSA), Noradrenalin-Dopamin-Wiederaufnahmehemmer (NDRI), Serotonin-Wiederaufnahmeverstärker
(SSRE), Monoaminooxidase-Hemmer (MAOI), trizyklische
Antidepressiva (TCAs). Leider wird das aber nicht genauer differenziert.

Was ist das Problem mit Antidepressiva?

Als Nachteil der Antidepressiva werden die Nebenwirkungen, wie emotionale Abstumpfung, Libidoverlust, Übelkeit, Benommenheit und Müdigkeit benannt. Auch würde ein Teil der Menschen unter Absetzsymptomen leiden, wie Stimmungsschwankungen, Schlafproblemen, Ängsten, einem Gefühl von elektrischen Schlägen, grippeähnlichen Symptomen und einem parkinsonähnlichen Zittern. Und das ist sicher nichts, was man seinem Kind ohne Grund zumuten will. Jedoch sollte man im Kopf behalten, dass diese Symptome auftreten können, nicht müssen.

Aber auch wirkstofffreie Tabletten können Nebenwirkungen machen. Klingt komisch, ist aber so. Es gibt neben einem Placebo-Effekt eben auch einen Nocebo-Effekt. Wenn ich mich gedanklich darauf einstelle, dass mir etwas schaden wird und ich Nebenwirkungen bekommen werde, kann eben auch das passieren.

Antidepressiva sind keine Medikamente, die man wie Smarties einwerfen sollte. Das ist klar. Dennoch haben sie aufgrund der Super-Responder eine Berechtigung.

Und jetzt?

Aber was macht man denn jetzt als Elternteil, wenn das eigene Kind Depressionen hat?
Ein Artikel im Psychotherapeutenjournal schreibt darüber, wie Psychiater und Psychotherapeuten heute aufklären sollten. Man solle beschreiben, dass nur etwa 15% der Patienten einen Nutzen davon haben und dass die Liste der Nebenwirkungen lang ist und eben auch Entzugssymptome auftauchen könne. Und ehrlich gesagt, wenn ich ein Elternteil wäre, der eine solche Aufklärung hört, dann würde ich mich gegen ein Antidepressivum entscheiden.

Das Problem ist nur das: Wenn ich nur über die Möglichkeit von Antidepressiva aufgeklärt werde und ich mich nur zwischen „keine Medikamente“ und nichts tun entscheiden kann, dann hat mein Kind auch keine Chance auf den Placebo-Effekt.

Ich verpasse also die Chance, dass es meinem Kind ein klein wenig besser geht. Deshalb ist eine Aufklärung, welche sich auf die Probleme der Antidepressiva konzentriert, in meinen Augen fahrlässig.

Man weiß heute, dass der Placebo-Effekt auch funktioniert, wenn der Patient darüber Bescheid weiß. Das bedeutet, wenn die Frage nach einer medikamentösen Behandlung im Raum steht, sollte auch immer über den Einsatz von wirkstofffreien Tabletten gesprochen werden, die die Selbstheilungskräfte aktivieren können. Aber nicht nur das. Es gibt erste Hinweise darauf, dass Depressionen deutlich vom Darmbiom, also den Bakterien und Hefen im Darm, mit beeinflusst werden. Man vermutet, dass das Darmbiom durch eine ausreichend obst- und gemüsereiche Kost mit fermentierten Lebensmitteln und den Einsatz von bestimmten Probiotika gefördert werden kann. Die Leitlinie für die Behandlung von Depressionen bei Kindern und Jugendlichen führt darüber hinaus eine kleine Studie über die Behandlung mit Omega-3 Fettsäuren an, die einen Hinweis auf einen positiven Einfluss von Omega-3-Fettsäuren auf die Depression gibt, wobei es für eine Empfehlung auf wissenschaftlicher Basis keine ausreichende Belege gibt, da die Studien häufig von schlechter Qualität sind. Wenn Ärzte und Psychotherapeuten also über den Einsatz von Tabletten reden, sollten wir uns nicht nur auf Antidepressiva fokussieren, sondern sollten unseren Patienten auch über den Einsatz von Omega-3-Fettsäuren, Prä- und Probiotika, einer gesunden Ernährung und Placebos sprechen.

Als Elternteil könnte ich mir dann einen Stufenplan zurechtlegen (sofern es die Erkrankung meines Kindes zulässt): Ich könnte zum Beispiel mit meiner Familie unsere Ernährung umstellen, damit meine Familie gesünder isst. Wichtig ist natürlich, dass hier unser Kind mit im Boot ist und nicht plötzlich zu Brottrunk und Brokkoli gezwungen wird.  Gleichzeitig können wir uns für wirkstofffreie Tabletten entscheiden, die meinem Kind helfen, seine/ihre Selbstheilungskräfte zu aktivieren. Im schlimmsten Fall wirkt hier zweimal der Placebo-Effekt. Im besten Fall reagiert einmal das Darmbiom auf die gesunde Ernährung und einmal wirkt der Placebo-Effekt.

In einer zweiten Stufe könnte mein Kind ein Omega-3-Kapseln und/oder ein Prä- oder Probiotikum einnehmen. Auch hier ist es im schlimmsten Fall der Placebo-Effekt der eine Besserung bringen kann, im besten Fall die Fettsäuren und/oder das Darmbiom. Die Einnahme von Fischöl und Prä-/Probiotikum sollte ich allerdings mit dem Hausarzt absprechen. Fischöl kann überdosiert werden und dann der Gesundheit schaden.

Diese beiden Schritte können auch bei leichten und mittleren Depressionen ausprobiert werden. Sollte mein Kind schwere Depressionen haben und nach den ersten beiden Schritten noch keine ausreichende Besserung in Sicht sein, dann könnte ich als 3. Schritt mich für ein Antidepressivum entscheiden.

So kann ich mir als Elternteil sicher sein, dass ich alle Alternativen ausgeschöpft habe, bevor mein Kind zum Antidepressivum greifen muss.

Sollte mein Kind aber hoch suizidal sein und es sich in der Klinik nicht ausreichend stabilisieren (ein Klinikaufenthalt wirkt an sich zumeist schon als Placebo), würde ich zu einem Antidepressivum greifen. Auch auf die Gefahr, dass Nebenwirkungen auftreten und das Medikament nur minimal besser wirkt. Zum einen weiß ich nicht, ob mein Kind evtl. ein Super-Responder ist und das Antidepressivum das Problem für mein Kind deutlich reduziert. Zum anderen kann eine bisschen bessere Wirkung manchmal das Tüpfelchen auf der Waage sein, welches mein Kind vom Suizid abhält. Zum Dritten gibt es nicht nur das eine Antidepressivum: Wenn Nebenwirkungen auftauchen, kann man auf ein anderes Produkt umsteigen. Häufig reduziert das die Nebenwirkungen. Und ja, mein Kind mag Probleme mit dem Absetzen haben. Aber wenn das Risiko der Suizid ist, wäre für mich die Aussicht auf Absetzsymptome besser zu verkraften, als der Vorwurf bei einem Suizid, dass ich nicht alles menschenmögliche probiert habe, um meinem Kind zu helfen. Schwere Depressionen sind nun mal eine tödliche Erkrankung. Und so wie ich auch bei einer Krebsbehandlung evtl. Spätfolgen riskiere, damit mein Kind überlebt, würde ich dieses Risiko auch bei einer Depression eingehen.

In diesem Sinne: Lassen Sie sich nicht verunsichern. Mit etwas Verstand erweisen sich Antidepressiva als eine gute Strategie im Kampf gegen die Depression.

Ihre

Ursula Feller

*Die Behandlung von Erkrankungen wird in Deutschland über Leitlinien festgelegt. Diese sind öffentlich einsehbar unter https://www.awmf.org

Quelle: Psychotherapeutenjournal vom 14. Dezember 2022.

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